Warum shall im englischen Vertrag nicht sollen heißt

Was bedeutet im englischen Vertrag shall? Das Wort wird oft mit sollen übersetzt. Jedoch ist dies in Rechtstexten grundfalsch und brandgefährlich.
In diesem Artikel zeigen wir Ihnen warum und wie Sie shall auf Deutsch richtig ausdrücken.
  • Bedeutet shall nicht sollen?
  • Shall heißt im englischen Vertrag nie sollen
  • Shall ist selbst in der englischen Rechtssprache recht unklar
  • Wie übersetze ich shall richtig?
  • Wie verwende ich shall auf Englisch?

Bedeutet shall nicht sollen?

Das deutsche sollen wird gerne als Übersetzung für shall vorgeschlagen. So steht es in so mancher Nachschlagequelle. Hier ist aber Vorsicht geboten, denn sollen entspricht shall nur in bestimmten Fällen, und nie im Vertrag.
Sollen passt für shall oft, wenn shall für Fragen verwendet wird, um Vorschläge zu machen, um Rat zu erbitten, oder um Hilfe anzubieten.

Shall we have a barbeque on Saturday?         

Sollen wir am Samstag grillen?


What shall I do? 

Was soll ich tun?

Als Modalverb wird shall verwendet, um Anweisungen und Befehle zu erteilen, also Verpflichtung auszudrücken, und ist synonym mit must und to have to [1]. Dabei ist dieser Gebrauch veraltet und formell.
Auch hier ist eine Ähnlichkeit mit sollen vorhanden, und sollen ist auch manchmal die richtige Übersetzung. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die Zehn Gebote, z.B:

You shall not kill. 

Du sollst nicht töten.

Die beiden Verben ähneln sich zwar der Bedeutung nach, unterscheiden sich jedoch entscheidend im ausgedrückten Maß an Verpflichtung. Shall drückt eine auf einer Regel beruhender Verpflichtung aus, und negiert (shall not) stellt das Wort ein kategorisches Verbot dar. Sollen ist hingegen flexibler, denn es schließt die Möglichkeit des Nicht-Folgeleistens nicht aus. Shall entspricht demnach eher müssen bzw. in negativen Sätzen dürfen nicht.
So verwendet gehört shall jedoch nicht mehr zum modernen Englischen [2]. 
Nur in einem Bereich ist es noch gang und gäbe – im juristischen. Kein englischer Vertrag nach traditioneller Art darf ohne shall auskommen. Shall ist das juristische Gewürze, das weit und breit gestreut wird, um jedem Text die richtige Note zu verleihen. Der Witz bei der Sache ist, dass selbst im Englischen seine Bedeutung äußerst umstritten ist (mehr gleich).

Shall heißt im englischen Vertrag nie sollen

In der englischen Vertragssprache begründet shall immer eine Verpflichtung.
Aber shall wird im englischsprachigen Vertrag gleichwohl häufig von Deutschsprachigen mit sollen identifiziert und somit falsch gedeutet als nicht zwingend. Das ist nicht nur völlig falsch, sondern lässt bei der Vertragsauslegung gravierende Missverständnisse entstehen, wie folgendes Beispiel veranschaulicht:
The seller shall transfer title to the buyer and the buyer shall pay the purchase price.
Gemäß der ‚Soll-Theorie‘ müsste die Übersetzung dieses Satzes so lauten: Der Verkäufer soll dem Käufer Eigentum an der Ware verschaffen, und der Käufer soll den Kaufpreis bezahlen. Und wenn es ihnen nicht zumute ist, dann vermutlich auch nicht. So wäre das Deutsche legitim auszulegen.
Jedoch im englischen Originalvertrag geht es vielmehr um die zwingenden Vertragspflichten. Bei Verletzung dieser scheitert der Vertrag, was Schadensersatzansprüche nach sich zieht – ein sogenannter breach of contract.
Die Verwechslung ist jedoch einigermaßen nachvollziehbar. Sollen klingt ja schließlich wie shall und ist mit ihm etymologisch verwandt [3]. Aber interessanterweise ist shall auch mit einem anderen deutschen Wort verwandt, einem Wort, das uns hier besser hilft: Schuld [4]. Man denke an die Schuldverhältnisse, die den Vertrag überhaupt ausmachen, und schon ist man am Ziel. Diese Eselsbrücke hilft uns zum richtigen Verständnis: shall heißt, dass man etwas ‚schuldet‘, dass man muss, und nicht, dass man soll.

Shall ist selbst in der englischen Rechtssprache recht unklar

Selbst in der englischen Rechtssprache ist shall ambig und höchst umstritten. Die Unklarheit entstammt dessen doppelter Identität: shall funktioniert nämlich sowohl als Modalverb als auch als Hilfsverb für das Futur [5], und dies führt zu einer gewissen Ambiguität.
Die Verwirrung wird durch die extrem unterschiedlichen Verwendungsweisen der legal drafters noch verstärkt. So kann shall u. a. im Sinne des bloßen Futurs erscheinen oder auch mit anderen Modalbedeutungen, wo keine konkrete Verpflichtung begründet wird. Oder mit unterschiedlichen Bedeutungen im selben Text. Nicht selten lässt sich nicht einmal feststellen, welche Bedeutung der Verfasser dem Verb überhaupt zugedacht hat.
Man begegnet häufig englischen Vertragswerken, bei denen fast jede Klausel durchgehend mit shall formuliert ist. Es handelt sich offenbar nicht um Verpflichtungen im engeren Sinne, sondern um eine sprachliche Konvention, die zur bloßen Form ausgeartet ist. Hier trägt shall m.E. die Bedeutung von der künftigen Begründung von Verpflichtungen, d.h. shall vereinbart in sich zugleich sowohl die Modalbedeutung als auch das Futur. Dieses scheint mir allerdings der Logik von Verträgen überhaupt zu folgen, denn die Vorgaben eines Vertrages sind an sich eine Art Verpflichtend-Machen mit Geltung für die Zukunft.
Die Mehrdeutigkeiten sind derart groß, dass die Lehrmeinungen unter den englischsprachigen legal drafters weit auseinanderklaffen. Es wird generell empfohlen shall entweder aus Klarheitsgründen ganz zu vermeiden oder angesichts des Mangels an einem passenden Ersatz nur ‚richtig‘ (i.S.v. Verpflichtung) zu verwenden. In einigen Rechtsordnungen, wie z.B. Australien und Kanada, ist die Verwendung von shall beim drafting verboten. Wer mehr zu den verschiedenen Positionen lesen möchte, kann sich die Links am Ende des Artikels ansehen.

Wie übersetze ich shall richtig?

Wie wir jetzt wissen, bedeutet shall in der Vertragssprache so viel wie ‚müssen‘. Doch das Verb müssen wirkt in der deutschen Rechtssprache recht holprig. Deutsche Verträge schreibt man bekanntlich nicht mit müssen, sondern im sogenannten Vertragspräsens. Aufgrund des vertraglichen Zusammenhangs reicht oft schon allein das bloße Präsens, um die Verpflichtung auszudrücken, ohne dass es eines müssen bedarf.
Das Vertragspräsens ist also in der Regel die beste Übersetzung für shall. Wenn die Verpflichtung ausdrücklich hervorgehoben werden soll, kann man sich ist verpflichtet zu oder müssen bedienen.
Also lautet unser Beispiel von oben The seller shall transfer title to the buyer richtig übersetzt:
Der Verkäufer verschafft dem Käufer Eigentum an der Ware.
alternativ
Der Verkäufer ist verpflichtet, dem Käufer Eigentum an der Ware zu verschaffen.
Manchmal wird eine Übersetzung im Futur mit werden versucht. Z.B.: Der Verkäufer wird dem Käufer Eigentum an der Ware verschaffen. Dies ist offenkundig ebenfalls falsch, denn, obwohl sie dem Sinn des Futurs zwar gerecht wird, fehlt jeglicher verpflichtende Aspekt. Sie ist eine bloße Beschreibung zukünftiger Ereignisse, ohne die Begründung irgendeiner Verpflichtung. Vielmehr darf man das englische ‚Vertragsfutur‘ außer Acht lassen und getrost im einfachen Vertragspräsens übersetzen.

Wie verwende ich shall auf Englisch? – mein Vorschlag

Beim Schreiben auf Englisch verwenden Sie am besten shall nur, um konkrete Verpflichtungen auszudrücken.
Zur Hervorhebung von Verpflichtungen stehen must, to undertake to oder allgemeiner be required to zur Verfügung. Im Übrigen reicht das Präsens. Für das Futur verwenden Sie konsequent will. (Auf keinen Fall shall und will unterschiedslos verwenden.) So kommunizieren Sie klar und vermeiden Mehrdeutigkeiten.
Und wenn wir in einem englischsprachigen Vertrag shall begegnen, denken wir an Schuld, nicht sollen, shall we?

Verweise

[1] https://www.collinsdictionary.com/dictionary/english/shall (Siehe Definition Nr. 4)
[2] Murphy, English Grammar in Use, S.44
[5] Triebel/Vogenauer, Englisch als Vertragssprache, S.40

Siehe auch

Triebel/Vogenauer, Englisch als Vertragssprache, C. H. Beck
Garner, Brian, Legal Writing in Plain English, Chicago Press
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